Detlev Claussen war als Soziologie-Professor an der Universität Hannover beschäftigt und ist inzwischen emeritiert. Er arbeitet mit einer kritisch theoretischen Perspektive schwerpunktmäßig unter anderem zu Antisemitismus, Rassismus und Fußball. 2003 erschien seine vielbeachtete Biografie »Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie«. Obwohl Claussen über Zeitmangel klagte, war er einer der Ersten, der unsere Fragen beantwortet hat.
Anspruch der G20 ist es, die derzeitigen Probleme des Kapitalismus zu lösen. Mit ihm läuft es seit Jahren alles andere als rund. Die Wirtschaftskrise 2008 scheint sich zu einer Legitimitationskrise der gesamten ökonomischen und politischen Verhältnisse entwickelt zuhaben. Aber wo befindet sich der globale Kapitalismus heute?
Detlev Claussen: Die Krise von 2008 scheint mir ähnlich fundamental zu sein wie die von 1929. Ein dem Keynsianismus vergleichbarer Ausweg scheint mir nicht gefunden worden zu sein. Ich fürchte, dass es noch eine zweite Welle der Finanzkrise geben wird. Der Zusammenbruch des chinesischen Immobilienmarktes scheint in absehbarer Zeit bevorzustehen, der die Weltwirtschaft schlimmer als 2008 tangieren wird. Ob die sozialen Sicherungssysteme das aushalten werden, kann man bezweifeln.
Brexit, Trumps »America First« oder Orbans »illiberale Demokratie« in Ungarn: wie erklären Sie sich die Renaissance rechter und reaktionärer Bewegungen auf der ganzen Welt?
Sie können noch Putins Rußland, Erdogans Türkei und Dutertes Philippinen hinzunehmen. Alle verbindet ein ethnonationalistischer Grundzug, der eine Lösung aller Probleme quasi im Verwandtschaftsmodus verspricht.
Der internationale reaktionäre Rollback wird oft unter dem Begriff des »Populismus« diskutiert. Uns erscheint dieser Begriff politisch unscharf und nichtssagend. Geht die Rede vom »Populismus« nicht über den eigentlichen politischen Gehalt dieser Phänomene hinweg? Oder trifft dieser Begriff seinen schwammigen Gegenstand, weil die alten Kategorien links/rechts nicht mehr passen?
Ich halte den Begriff »Populismus« durchaus für angemessen. Es macht gerade einen Erfolg der Populisten aus, dass sie aktiv die Grenzen zwischen rechts und links verwischen. Die ganze Anti-System-Rhetorik und der Anti-Eliten-Gestus beutet aus, dass der Reformbegriff vom Neoliberalismus gekapert wurde und die Linke als politischer Trachtenverein dasteht.
Ist die Linke schuld am aktuellen Rechtsruck, weil sie sich zu sehr um identitätspolitische und kulturelle Fragen und zu wenig um die materiellen Probleme der Lohnabhängigen und Prekarisierten gekümmert hat?
Die traditionelle Linke hat sich allzu lange nicht um Diskriminierung gekümmert, die Neue Linke hatte darin einen richtigen Ansatzpunkt. Nur mit der Identitätstpolitik hat sie sich auf ein Feld begeben, auf dem sie nichts gewinnen konnte. »Identität« ist im Prinzip ein reaktionäres Konzept, das die gesellschaftliche Arbeitsteilung festschreibt, so wie sie ist. Alle populistischen Bewegungen sind auch Identitätsbewegungen. Ideologen der Neuen Rechten bedienen sich gerne des Identitätskonzepts. Da es sich wegen seiner Unbestimmtheit für jede Form der Projektion eignet, passt es ideal zum Populismus.
Didier Eribon hat kürzlich in einem Interview mit der »Zeit« bemerkt, dass die Rhetorik der linken spanischen Partei Podemos genau die gleiche sei wie die des rechten Front National. Sarah Wagenknecht glänzt ja auch mit entsprechenden Statements. Stimmt es, dass aktuell viele Linke im Abschied vom Universalismus und der Beschwörung von Volk und Vaterland ein Rezept gegen rechte Erfolge sehen? Wohin führt diese Strategie?
Das ist keine Strategie. Sie bereitet nur der neuen Rechten den Boden. Der Populismus schluckt diese sich selbst aufgebende Linke.
Der G20-Gipfel 2017 in Hamburg hat eine breite Gegenmobilisierung hervorgerufen. Es scheint, als sei die gesamte deutsche Linke in Aktionismus verfallen, der sich in Inhalt und Form nicht von anderen Gipfelprotesten (Heiligendamm 2007, Prag 2002, Genua und Göteborg 2001) unterscheidet. Ist das nach den Ereignissen 2016 noch zeitgemäß? Oder sollte man einen Moment innehalten, um die Wirklichkeit und Möglichkeiten linker Praxis selbstkritisch zu reflektieren?
Das wäre dringend geboten. Vor allem die richtungslose Militanz ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Ohnmacht.
Die geplanten Proteste treffen in Hamburg oft auf den Einwand, es sei in Zeiten zunehmender Abschottung doch begrüßenswert, dass Staats‑ und Regierungschefs noch miteinander reden. Andere bemängeln an den Gipfelprotesten, dass sie sich unnötigerweise auf eine symbolische Herrschaftsveranstaltung konzentrieren würden. Ob diese nun reibungslos durchgeführt oder ihr Ablauf gestört wird, ändere nichts an den Verhältnissen. Teilen Sie diese Kritik?
Irgendwie schon. Wie der letzte G7-Gipfel im italienischen Taormina gezeigt hat, werden hier gar keine großen Entscheidungen getroffen. Die Globalisierung, wie wir sie in den letzten 25 Jahren erlebt haben, ist schon tot. Wichtiger ist, den Vormarsch der Populisten aufzuhalten. Das erfordert viel Überzeugungskraft und phantasievolle Aktionen.
Wo steht die Linke 150 Jahre nach Erscheinen des Kapitals und 100 Jahre nach der Oktoberrevolution?
Ich glaube, die Epoche der Revolutionen ist vorbei. Ein direkter Machtkampf ist gegen die Herrschenden nicht zu gewinnen. Was wir brauchen, ist eine neue tiefgreifende Analyse des modernen kapitalistischen Systems, die die politisch‑ökonomischen Widersprüche bewußt macht. An diesen Widersprüchen des Systems muss man ansetzen, von der Ernährung bis zum Wohnen, von Arbeit und Leben. Die Demokratisierung der Lebensformen ist ein unerfülltes linkes Programm, das auch die Machtverhältnisse ohne gewaltsame Konfrontation untergraben kann. Die Veränderung der Gesellschaft ist keine Frage physischen Stärke, sondern der politischen Klugheit.