Roter Salon Leipzig: Zuspitzung pragmatischer Vernunft

Der Rote Salon aus dem Leipziger Conne Island hat sich durch diverse Aufrufe und Verlautbarungen zu den G20-Protesten gequält. Der daraus entstandene Diskussionsbeitrag wurde in der letzten Jungle World abgedruckt. Wir haben Ulrich Schuster, Mitglied des Roten Salons, um ein Interview gebeten.

In eurem Beitrag für die Jungle World kritisiert ihr die »Feindbildkonstruktionen« der mobilisierenden Gruppen, die sich – wie häufiger in der linken Geschichte – nicht an den Maßstäben von »Humanität« und »Freiheit« orientieren und verweist auf historische Vorbilder. Wie äußern sich solche Feindbildkonstruktionen?

Ulrich Schuster (Roter Salon): Wir kritisieren an den G-20 Protesten zum einen diese personifizierende Zuspitzung der Kritik, die sich gegen sogenannte »Reiche«, »Verantwortliche und Profiteure« und die »Maschinisten« des Systems richtet. Diese sollen, wie es in Aufrufen und Bekennerschreiben heißt, markiert und angegriffen werden. Dabei wird vom tatsächlichen Bewusstsein der Genannten einfach abgesehen. Stattdessen droht man ihnen mit Gewalt. So wird zu Hausbesuchen bei Millionären aufgerufen, Bullen sollen mit Feuer angegriffen werden. Tatsächlich steht diese Rechtfertigung der Gewalt in einer linken Tradition, die in der Verfolgung sozialer und politischer Differenz im revolutionären Russland ihren Ursprung hat und sich auch im RAF-Terrorismus Bahn brach. Das Leben der Anderen ist, wenn sie dem Schweinesystem zugeschrieben werden, nichts wert. Damit wird dem linken Terror Tür und Tor geöffnet.

Und dieser antihumanistischen Haltung lässt sich auch nicht mit gestanzten und gebetsmühlenartigen Verweisen auf die strukturelle Gewalt des kapitalistischen Systems entkommen.

Ja, Kapitalismus ist auch Gewalt, aber es ist zu fragen, ob linke Militanz diese gewaltförmigen Verhältnisse einfach nur spiegelt, wenn sie sich an der Schlagkraft »Schwarzer Blöcke« und der Bestrafung und Ausschaltung vermeintlicher Gegner orientiert. Ein Teil dieser Militanz rührt aus der Ohnmacht fehlender Handlungsperspektiven heraus, aber das macht sie keineswegs progressiv. Sie weist damit nicht in Richtung einer besseren, nämlich das Leben und die Individualität der Menschen schätzenden, Alternative zu den jetzigen Verhältnissen.

Der Verdacht einer Spiegelung von Gewaltverhältnissen zeigt sich meiner Meinung nach auch dann, wenn die Beteiligung an den Riots als spannendes Freizeitabenteuer präsentiert wird. Das ist zwar ehrlicher als diese verlogene Haltung von Autonomen und Anarchisten, wonach der Staat und die Verhältnisse die radikalen Linken zum militanten Widerstand zwingen. Aber schon die Ästhetik von Straßengangs, die sich an ihrer eigenen Gefährlichkeit berauschen, und dieser unverhohlene Wunsch, dass es Action geben muss und etwas Außergewöhnliches passieren möge, steht alles andere als im Widerspruch zum heutigen Eventkapitalismus.

Gefahr und Risikobereitschaft werden nicht nur im Red Bull Bulletin als Marketingstrategie präsentiert. Sie passen zu einem kapitalkonformen Typus, der einfach alles gibt, um sich als etwas ganz Besonderes im großen Allerlei der Marktsubjekte anzubieten. Eigentlich möchten sich die Autonomen mit ihrer Militanz als nicht zu vereinnahmender Störfaktor im sogenannten Normalbetrieb zeigen. Man hat es ja auch schwer, wenn ein gesellschaftlich herrschendes Milieu aus grün angehauchten Bildungsgewinnlern, alternativen Linken und zivilgesellschaftlich engagierten Weltverbesserern angeführt vom Spiegel, Freitag und der SZ die Notwendigkeit radikaler Proteste gegen G20 und den Finanzmarktkapitalismus betonen. Aber diese Abgrenzung durch Militanz bleibt schon durch ihre unzweideutige Ankündigung in Aufrufen und Mobilisierungsvideos und ihre sich selbst genügende Praxis (Wer braucht notwendig die Dinge aus den aufgebrochenen Supermärkten? Welchen politischen Vorteil bringen drei Stunden ohne Polizei in der Schanze?) inszeniert. Meine These: In Hamburg randalieren nicht die Armen und Ausgestoßenen, weil sie mit dem Rücken zur Wand stehen, sondern gelangweilte Bürgerkinder spielen Revolution, weil es ihnen Spaß macht.

Und natürlich kann man sich dann hervorragend in die Wut gegen das System hineinsteigern, wenn die Polizei alles andere als zimperlich gegen die Proteste vorgeht. Aber auch das ist vorgeschoben: Wer seine Aufrufe mit »Welcome to Hell« betitelt, hat sich auch mit Blick auf das Verhalten der Polizei genau das gewünscht, was jetzt passiert ist.

Statt sich also an dieser ritualisierten, abgeschmackten und doppelbödigen Inszenierung von Radikalität zu beteiligen, wäre es angebracht, die Verstrickung des Protestmilieus in einem komplexen System ökonomischer Herrschaft und die Überschneidungen mit deren regressiven Aufhebungsbemühungen zu hinterfragen.

Wie funktioniert diese Gang-Bildung. Was ist der verbindende Kitt der Gipfelgegner?

Den G20-Protesten geht es um ein gemeinschaftsstiftendes Moment. Dafür bedient man sich antikapitalistischer Projektionen. Auf dieser Linie steht die personalisierende Konzentration auf die Repräsentanten des Kapitals, die Wendung gegen die sogenannten »realen« Charaktermasken, die sogenannten »Herrschenden«, die »Befehlsempfänger von global agierenden Großunternehmen und Finanzoligarchen«. In schlechter linker Tradition erscheint die Welt als Spielball bösartiger, übermächtiger Eliten.

Zwar werden Zwänge der Konkurrenz und kapitalistische Systemlogik ab und an benannt, dann aber eher als Feigenblatt, welches weder den Anlass der Mobilisierung noch die linken Feindbildkonstruktionen zu überdecken vermag.

Das Verlangen an Konkretisierung des Kapitalverhältnisses steckt beispielsweise auch in dem Wunsch des »…Ums Ganze«-Bündnisses, den Hafen zu blockieren. Der symbolische Effekt dieses Ansinnens ist verheerend, weil die Aktion als eine gegen den internationalen Handel und für die nationale Produktion erscheint, selbst wenn damit nur ein Hinweis auf die Bedeutung der Logistik im kapitalistischen Produktionszusammenhang gemeint sein soll. Nach außen kann die Blockade des Hafens in Zeiten von TTIP-Ablehnung und Globalisierungsangst nur als Kritik am internationalen Handel wahrgenommen werden. Und damit steht auch diese Aktion in einem fürchterlichen Assoziationsraum verkürzter Kapitalismuskritik.

Der moderne Antisemitismus prägte die Wahrnehmung des Handels und des Finanzsektors, also die Sphäre der Zirkulation von Waren und Kapital als grenzübergreifend, undurchsichtig, also »jüdisch« und grenzte ihn von der positiven Setzung »nationaler Arbeit« ab. Durch diese ideologische Aufspaltung des Kapitalverhältnisses gelang es, die Juden als die Verursacher aller Verwerfungen in modernen Gesellschaften darzustellen und zu verfolgen.

Sicher ist die Blockade-Aktion jetzt in Hamburg nicht antisemitisch motiviert. Als solche zu verstehen ist sie allemal. Aber das scheint den G20-Gegnern egal zu sein. Wichtig ist ihnen, ein Zeichen des sozialen Protests zu setzen, worauf es deutet, bleibt sekundär. In der Konsequenz begegnet man auch bekennenden Antizionisten mit solidarischer Toleranz.

Jedenfalls ist bisher nicht bekannt geworden, dass der Internationalistische Block, der zu den Unterstützern des BDS-Movements gehört und auf einem Camp den Workshop »Gegen Kapital und Krieg – Intifada bis zum Sieg« plante, sowie auf Plakaten den »liberation struggle« gegen Israel unterstützt, von den Protesten ausgeschlossen werden soll.

Protestprofis wie die Interventionistische Linke (iL) sehen in den wachsenden Interessenkonflikten und Brüchen zwischen den kapitalistischen Staaten tatsächlich eine revolutionäre Morgendämmerung. Ihr bewertet in Eurem Jungle World-Dossier das Zusammenkommen der Staats‑ und Regierungschefs beim G20-Gipfel hingegen als ein Moment »pragmatischer Vernunft«. Beides scheint uns Wunschdenken zu sein. Braucht es diesen positiven Bezug auf das Bestehende um den Blödsinn dieser Gruppen kritisieren zu können?

Zweifelsohne nehmen zwischen den kapitalistischen Zentren die Konflikte zu. Zudem weisen diese eine Eskalationsgefahr auf, wie sie unter anderem in begrifflichen Analysemustern einer »Rückkehr des 19. Jahrhunderts« (Dan Diner) oder einer »Ordnung ohne Hüter« (Herfried Münkler) zum Ausdruck gebracht wurden. Beide verweisen auf zeitlich verschiedene Konstellationen dynamischer nationaler Rivalität.

In dieser Situation sind zwischenstaatliche Kooperationsbemühungen und eventuelle Kompromisse besser als eine weitere Zuspitzung der Gegensätze. Der zwischen Russland und den Vereinigten Staaten vermittelte Waffenstillstandsversuch für Syrien ist dafür ein Beispiel.

Wer sich allerdings nur in festgefügten Endzeit‑ und Krisentheorien bewegt oder den Kapitalismus ohnehin mehr verteufelt als in seinen historischen Erscheinungsweisen zu verstehen versucht, wird weder die Möglichkeit rationaler Selbstreflexivität des Systems (Beispiele dafür wären die Einführung des Sozialstaats und Abschaffung der Atomkraft), das ein Interesse an Reproduktion entwickelt, noch die Vernunft schlechter aber nicht schlechtester Entscheidungen zu schätzen wissen. Dass Merkel für Freihandel und gegen Protektionismus, für Globalisierung, für gesteuerte Einwanderung ist und die Homo-Ehe toleriert, macht einen Unterschied zu rechten, nationalistischen Konzepten. Es muss einem Angst und Bange werden, wenn solche fortschrittlichen zivilisatorischen Positionen in den G20-Aufrufen nicht mehr unterschieden und geschätzt werden.

Zivilisatorische Errungenschaften und demokratische Freiheiten im Kapitalismus anzuerkennen, heißt nicht automatisch daraus eine linksradikale Perspektive abzuleiten. Aber die Missachtung der innerkapitalistischen Unterschiede, die Gleichmacherei von »autoritärem Neoliberalismus« und »nationalistischem Backlash«, die Behauptung, bei einer liberalen Demokratie handele es sich bloß um einen Schein – genau diese Indifferenz, die jetzt in der G20-Mobilsiierung deutlich wird – lässt befürchten, dass für diejenigen, die an eine revolutionäre Chance angesichts der jetzigen Krise glauben, liberale Versprechen wie Freiheit und Individualität im Prozess der gesellschaftlichen Transformation verworfen und unterlaufen und nicht auf Grundlage sozialer Gleichheit verwirklicht werden.

Ihr schreibt, dass sich die »abgehängten Regionen« der Welt nichts sehnlicher wünschten als eine »kapitalistische Durchdringung«. Die weltweite Expansion des Kapitals kommt hier als notwendiger Zwischenstopp auf dem Weg in eine emanzipierte Gesellschaft daher. Davon abgesehen, dass es auch in den kapitalistischen Zentren alles andere als rosig zugeht: deckt sich Eure These mit den aktuellen ökonomischen Entwicklungen? Besteht nicht die Gefahr, dass bestimmte Regionen immer abgehängt bleiben werden?

In den vom internationalen Kapital ignorierten Regionen findet keine Entwicklung statt. Dort wo keine oder wenig Entwicklung stattfindet, toben Bürgerkriege, herrschen Korruption und Bandenherrschaft. Somalia ist ein Beispiel dafür. Dafür lassen sich irgendwie dann auch der Kapitalismus und der Kolonialismus verantwortlich machen, was allerdings nicht besonders stimmig ist angesichts erfolgreicher Entwicklungsdiktaturen wie Äthiopien oder Ruanda. Was es wirklich gibt ist die Ausbreitungstendenz des Kapitals. Warum sollte eine Region der Welt davon für alle Zeit ausgeschlossen bleiben?

Glaubt man den Studien von Entwicklungshilfeorganisationen wie Oxfam ist selbst in der als besonders von Armut gekennzeichneten Subsahararegion die Armut zurückgegangen. Das heißt nicht, dass dort, wo das Kapital hinkommt, Wohlstand für alle und demokratische Verhältnisse wachsen. Doch zumindest ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die kapitalistische Globalisierung der letzten 30 Jahre in vielen Regionen der Welt und entgegen linker Theorien von der strukturellen Benachteiligung der Peripherie für ökonomische Entwicklung gesorgt hat. Jetzt sind die amerikanischen Industriearbeitsplätze in China. Wer hätte das gedacht?

Mit der kapitalistischen Entwicklung einst abgehängter Regionen sind unzählige negative Entwicklungen wie Kinderarbeit, unmenschliche Arbeitsbedingungen und Raubbau an der Natur verbunden. Nichtsdestotrotz verbindet sich mit Globalisierung in den Entwicklungsländern, in denen es kapitalistisches Wachstum gibt, für Millionen Menschen die Hoffnung auf ökonomischen und sozialen Aufstieg. Aufstieg aus Subsistenzökonomien, patriarchalen Gemeinschaften, rückständigen ländlichen Verhältnissen. In Somalia leben schätzungsweise 70 % der Menschen von der Landwirtschaft, die meisten als Nomaden und Halbnomaden mit Schafen und Ziegen.

Diesen Menschen jetzt mit Globalisierungskritik oder Imperialismuskritik zu kommen, und zu argumentieren, westliches Kapital oder das Kapital an sich sei schädlich und böse, dürfte sowohl an der Perspektive sich herausbildender Mittelschichten als auch an den Bedürfnissen der tatsächlich Abgehängten vorbeigehen.

Die revolutionäre Linke in Hamburg sollte nicht nur ein Flugblatt für die Arbeiter im Hafen verteilen, das diese zum Mitmachen am nächsten kommunistischen Experiment überzeugt, sondern auch eins für die 2,7 Milliarden Chinesen und Inder und all die anderen, die sich über das weltumspannende Mediensystem am Wohlstand in den reichen Industrienationen orientieren, damit auch die nicht mehr vom nächsten Mobiltelefon und Mittelklassewagen, sondern vom Ende ihrer gerade beginnenden »imperialen Lebensweise« träumen.

Die Ungleichzeitigkeit sozialer und ökonomischer Entwicklung markiert eine nicht zu übergehende Schwierigkeit, wenn es um eine globale Befreiungsperspektive gehen soll. Linke Globalisierungskritik ignoriert diese Ungleichzeitigkeit gerne, indem sie einfach vorgibt, für die Wünsche der Armen, der Unterdrückten und der Flüchtlinge zu sprechen. Das ist zu weiten Teilen eine Übertreibung und mehr noch häufig eine Anmaßung. Wenn sie auf die Realität trifft, wird sie zur neuerlichen Verachtung anderer Lebenswelten führen.

Schon jetzt steckt auch eine gehörige Portion moralisierender Missbilligung von Luxus und Wohlstand in den nicht enden wollenden Aufrufen zu Konsumkritik und Nachhaltigkeit. Da nehmen sich Harald Welzer, die Degrowth-Bewegung, grün-protestantische Kostverächter und radikale Linke mit ihrem Bedürfnis, schon jetzt Formen nachhaltiger Subsistenz auszuprobieren, nicht viel. Das macht keine Hoffnung auf eine Aufhebung kapitalistischer Verhältnisse auf der Basis des größtmöglichen materiellen Wohlstands, sondern hier wird Radikalität einfach als Entsagung ausbuchstabiert.

Was heißt das für eine fortschrittliche Gesellschaftskritik heute? Die regressivsten Momente der Reaktion auf die kapitalistische Krise hervorzuheben?

Ja. Genau. Und im Bewusstsein linker Verbrechen und Irrtümer mitzudenken, dass auch die Linke Teil des Problems und nicht der Lösung sein kann.

Bleibt es beim Finger in die Wunde legen? Hat sich die Linke damals wie heute derart blamiert, dass nur noch der Abschied bleibt?

Wenn »Finger in die Wunde legen« linke Selbstkritik meint, ist das ja schon eine Aufgabe, die zu gleich Auskunft gibt, dass man am Projekt der Aufklärung und der sozialen Befreiung weiterhin festhält. Nur wäre gerade angesichts der Ereignisse in Hamburg und der breiten, sehr kompromissbereiten Mobilisierung zu fragen, welchen Stellenwert diese linke Selbstkritik heute überhaupt noch hat. Wo gab es denn großartige kritische Einsprüche gegen die Mobilisierung gegen den G20-Gipfel zu lesen? Selbst in der Jungle World, wo unser Dossier erschien, war die überwiegende Anzahl der Beiträge wohlwollend, aufrufend, unkritisch. Mir scheint, dass es der Bewegungslinken weitgehend gelungen ist sich unter Aufnahme einiger Worthülsen antideutscher und bewegungskritischer Provenienz von Zweiflerinnen und Zauderern freizuschütteln. Die Maßgabe solidarischer Toleranz mit allem, was sich als kapitalismuskritisch bezeichnet und die sozialpädagogische Formalisierung von Diskussionen in der linken Szene machen eine inhaltliche Auseinandersetzung, ein kritisches Innehalten und streiten auch nicht leichter. Insofern ist es doch eher so, dass sich gerade eher die Linke von ihren hausinternen Störenfrieden verabschiedet und nicht umgedreht.