Raul Zelik schreibt Romane und politische Analysen. Zuletzt publizierte er einen schmalen Band über die spanische Podemos-Bewegung. Ihm wird die Mitbegründung der Gruppe F.e.l.S. nachgesagt, die inzwischen in der Interventionistischen Linken (iL), einer der Hauptstützen der G20-Proteste aufgegangen ist. Seit 2016 sitzt Zelik zudem im Parteivorstand der Linken.
Anspruch der G20 ist es, die derzeitigen Probleme des Kapitalismus zu lösen. Mit ihm läuft es seit Jahren alles andere als rund. Die Wirtschaftskrise 2008 scheint sich zu einer Legitimitationskrise der gesamten ökonomischen und politischen Verhältnisse entwickelt zuhaben. Aber wo befindet sich der globale Kapitalismus heute?
Raul Zelik: Er ist dabei, sich zu Tode zu siegen. Er hat alle Gesellschaften und Räume unseres Planeten in sich eingebaut und steht jetzt vor einem doppelten Problem: Da ist zum Einen die ökologische Dimension. Für die Vermehrung von eingesetztem Kapital braucht es Wachstum. Der Planet Erde jedoch ist begrenzt, und es kann kein unendliches Wachstum geben. Selbst dann nicht, wenn ein größerer Teil der Gewinne mit nicht-materiellen Gütern (wie Software oder Dienstleistungen) erwirtschaftet wird. Der Kapitalismus gerät also zunehmend in Widerspruch mit den Gesetzen von Ökologie und Ökonomie. Sprich: Es gelingt ihm nicht, mit den begrenzten Ressourcen unseres Planeten zu haushalten. Oder ironisch ausgedrückt: Er ist eine effiziente Ineffizienzmaschine. Gerade seine große Dynamik wird immer mehr zu einem gewaltigen Problem.
Das zweite Problem ist die soziale Dimension. Der Kapitalismus baut die Menschen mit Gewalt in sich ein, aber hat keinen Platz für sie. Das beste Beispiel ist die globale Landwirtschaft. Ein Drittel der Weltbevölkerung, 2,5 Milliarden Menschen sind nach wie vor Bäuerinnen und Bauern. Auf dem Weltmarkt werden sie in Zukunft nicht bestehen können, weil die industrielle Landwirtschaft preiswerter produziert. Das heißt, diese 2,5 Milliarden Menschen migrieren. Sie wandern v.a. in die Großstädte des Südens ab. Die Slums von Kinshasa, Medellín, Nairobi oder Delhi – aus der Perspektive des globalen Südens ist genau das die kapitalistische Moderne.
Brexit, Trumps »America First« oder Orbans »illiberale Demokratie« in Ungarn: wie erklären Sie sich die Renaissance rechter und reaktionärer Bewegungen auf der ganzen Welt?
Der neoliberale Kapitalismus steckt in einer Hegemoniekrise. Und in solchen Krisen gibt es immer zwei Auswege: Die reaktionäre Verklärung eines angeblich idyllischen früheren Zustands (der Nation, dem Dorf, der Ethnie, …) oder die emanzipatorische Überwindung der Herrschaftsverhältnisse. Der zweite Ansatz erfordert natürlich viel mehr Mut, weil er bedeutet, dass man sich mit Mächtigen anlegt. Und genau deshalb versammelt sich das Pack, das weder Empathie noch Courage besitzt, lieber bei Rassisten und Reaktionären.
Im Übrigen bin ich mir aber gar nicht so sicher, ob der Brexit wirklich in die gleiche Reihe mit der Trump-Wahl oder der Orban-Regierung gehört. Es gibt ja auch von links gute Gründe für einen EU-Ausstieg. Katalanische Linke z.B. wollen einen mediterranen Internationalismus – gegen die EU.
Der internationale reaktionäre Rollback wird oft unter dem Begriff des »Populismus« diskutiert. Uns erscheint dieser Begriff politisch unscharf und nichtssagend. Geht die Rede vom »Populismus« nicht über den eigentlichen politischen Gehalt dieser Phänomene hinweg? Oder trifft dieser Begriff seinen schwammigen Gegenstand, weil die alten Kategorien links/rechts nicht mehr passen?
Die Unterscheidung in links und rechts ist so aktuell wie nie zuvor. Solidarität, Gemeinnutz, Kooperation, Demokratie, der Widerstand gegen Exklusion, Gendergleichheit, ein nicht-utilitaristisches Naturverhältnis, die Offenheit für Diversität, Freiheit nicht nur für diejenigen, die es sich leisten können, oder ein Universalismus, der über Grenzen und Sprachen hinausgeht – all das sind progressive Werte. Und es sind Werte der Linken.
Was den Populismus angeht: Der Begriff meint sehr unterschiedliche Dinge. Eine zentrale These der Linkspopulisten lautet, die gesellschaftlichen Verhältnisse seien so zersplittert, dass wir nach etwas Einigendem suchen müssen und das ist für sie »das Volk«. Auf das Deutsch klingt das ziemlich blöd, aber in den romanischen Sprachen oder auch im Englischen sieht die Sache schon ganz anders aus. Bei pueblo oder people denkt man in erster Linie an die »einfachen Leute«, an die »Menschen von unten«. Dass der Linkspopulismus sich an the people richtet und das »einfache Volk« oder die »99 Prozent« von den Mächtigen scharf abgrenzt, finde ich völlig richtig. Ökonomisch betrachtet ist das völlig richtig: Der Kapitalismus hat eine extrem polarisierte Weltgesellschaft hervorgebracht. Und die herrschende Finanzpolitik – sowohl der Merkels und Macrons als auch der Trumps und Putins – nützt nur einem Prozent der Bevölkerung.
Ich finde die linke Populismus-Theorie, die v.a. von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau entwickelt worden ist, aus einem anderen Grund falsch: Sie redet zu viel über Politik und Sprache und zu wenig über Ökonomie und materielles Leben. Aber diesen Einwand macht die bürgerliche Populismuskritik ja gar nicht. Die ist in der Frage ja genauso blind.
Ist die Linke schuld am aktuellen Rechtsruck, weil sie sich zu sehr um identitätspolitische und kulturelle Fragen und zu wenig um die materiellen Probleme der Lohnabhängigen und Prekarisierten gekümmert hat?
Also ich wüsste nicht, warum ich daran Schuld sein soll, wenn andere Nazis oder Rassisten werden. Im Übrigen würde ich behaupten, dass die Linke – und die ganze bürgerliche Gesellschaft – v.a. ein Empathieproblem hat. Wenn es anderen Scheiße geht, muss man sich einmischen, sich solidarisieren, etwas auf die Beine stellen. Egal, ob jemand bei Amazon einen Scheiß-Job oder als Transgender Angst hat, auf die Straße zu gehen.
Didier Eribon hat kürzlich in einem Interview mit der »Zeit« bemerkt, dass die Rhetorik der linken spanischen Partei Podemos genau die gleiche sei wie die des rechten Front National. Sarah Wagenknecht glänzt ja auch mit entsprechenden Statements. Stimmt es, dass aktuell viele Linke im Abschied vom Universalismus und der Beschwörung von Volk und Vaterland ein Rezept gegen rechte Erfolge sehen? Wohin führt diese Strategie?
Ich denke, dass Didier Eribon sehr wenig Ahnung von Podemos hat. Das Problem des Podemos-Wahlkampfs 2015 (der im Übrigen sehr erfolgreich war) war eher, dass er ziemlich weichgespült wirkte. Wie von einer PR-Agentur designt. Aber »Volk« und »Vaterland« standen da nicht im Vordergrund. Und bei aller Kritik kann ich das auch bei Sahra Wagenknecht so nicht erkennen.
Im Übrigen ist es vielleicht auch einfach Quatsch zu glauben, dass die »Beschwörung des Volkes« im Widerspruch zum Universalismus stehen muss. Ich meine, in Deutschland vermutlich schon. Aber auf Spanisch denkt man bei pueblo eher an die chilenische Arbeiterklasse von 1970 oder an ein Dorf – denn pueblo ist sowohl »Volk« als auch »Dorf« – als an einen ausländerjagenden Mob.
Der G20-Gipfel 2017 in Hamburg hat eine breite Gegenmobilisierung hervorgerufen. Es scheint, als sei die gesamte deutsche Linke in Aktionismus verfallen, der sich in Inhalt und Form nicht von anderen Gipfelprotesten (Heiligendamm 2007, Prag 2002, Genua und Göteborg 2001) unterscheidet. Ist das nach den Ereignissen 2016 noch zeitgemäß? Oder sollte man einen Moment innehalten, um die Wirklichkeit und Möglichkeiten linker Praxis selbstkritisch zu reflektieren?
Manchmal ist es vielleicht auch ganz hilfreich, nicht zu viel nachzudenken. Wenn ich mal wieder laut und mit vielen gemeinsam Nein sagen kann, sollte ich das auch tun. Wir sollten das viel häufiger tun. Nichts hat die Geschichte so vorangebracht wie das aufsässige, widerspenstige, regelverletzende Nein.
Die geplanten Proteste treffen in Hamburg oft auf den Einwand, es sei in Zeiten zunehmender Abschottung doch begrüßenswert, dass Staats‑ und Regierungschefs noch miteinander reden. Andere bemängeln an den Gipfelprotesten, dass sie sich unnötigerweise auf eine symbolische Herrschaftsveranstaltung konzentrieren würden. Ob diese nun reibungslos durchgeführt oder ihr Ablauf gestört wird, ändere nichts an den Verhältnissen. Teilen Sie diese Kritik?
Ein lustiges Argument. Die Bastille war im Frankreich des Jahres 1789 sicherlich auch nicht gerade die zentrale Machteinrichtung. Alle sozialen und demokratischen Aufbrüche beginnen mit symbolischem Aufbegehren.
Wo steht die Linke 150 Jahre nach Erscheinen des Kapitals und 100 Jahre nach der Oktoberrevolution?
Schade, dass es keine Zeitmaschinen gibt. Man könnte an Tagen, an denen man am Sinn der sozialen und politischen Kämpfe zweifelt, für ein paar Stunden ins 19. Jahrhundert verreisen. Als Zeitreisenden hätten wir sicher großes Vergnügen mit der Klassenherrschaft, der Frauenunterdrückung, der offenen Sklaverei des vorsozialistischen, vorrevolutionären Zeitalters. Alles das, was es heute in einem Teil der Welt an sozialer und demokratischer Inklusion für die »einfachen Leute«, für die Arbeiter/innen, Frauen, Nicht-Weißen, sexuell »Anderen« gibt, wurde erkämpft. Die Linke mag viel Scheiß gebaut haben. Aber sie hat in diesem sozialen Fortschritt eine wichtige Rolle gespielt.
Never forget: Es waren nicht die bürgerlichen Liberalen, die das Wahlrecht für Frauen eingeführt, das Klassenwahlrecht abgeschafft, soziale Sicherungssysteme aufgebaut und die »Rassen«trennung beseitigt haben. Nein, das waren wir. Wir einfachen Leute. Mit unserem Protest, unserem Aufbegehren, unserer Solidarität.