Deutungshoheit

Der Psychoanalytiker Karl-Josef Pazzini hat die Protagonisten des G20-Spektakels zu sich auf die Couch bestellt.

Was um das G20 Treffen herum ausgetragen wird, ist ein Kampf um die Deutungshoheit. Erkennbar wird die Macht und dann auch die Gewalt des Symbolischen. Das scheint mir der eigentliche Reiz der Veranstaltung zu sein.

Psychoanalyse entsteht aus den Folgen der Einsicht, dass eine Deutungshoheit selbst über die eigenen Triebe nicht zu erreichen ist. Die gesellschaftliche Verfasstheit kommt bildend dem Vereinzelten, dem »Autonomen« dabei wenig zur Hilfe. Für Schuldgefühle ausbeutende Organisationen ist es nur gut, wenn der Einzelne sich mangelnde Fitness, zu geringe Kompetenz, generell Unkontrolliertheit als eigenes Versagen zurechnet. – Gegen den Anschein des eigenen Versagens kämpft übrigens auch die Polizei, sie weiß nicht einmal, was der Erfolg wäre. Das ist die beste Bedingung dafür, Randale zu machen. An den Treueschwüren gegenüber der Polizei erkennt man ihre Verräter.

Es gehört zum Grundhandwerkszeug des Analytikers, in Bedrohungen und Ängsten die Spuren des Herbeigesehnten zu suchen. Das ist nicht ganz einfach, deshalb nur grob:

Es entsteht die heimliche Sehnsucht, dass es doch da Gewalttäter gäbe, klammheimlich, die doch bitte als böse Buben das Geschäft der eigenen Wut übernähmen. Die Polizei hat sie identifiziert, mit Namen und Bild benannt werden sie in der Zeitung vorgestellt als Hoffnungsträger – im Geheimen: »Gebt uns doch bitte Legitimation zum Eingreifen! Sonst müssen wir auch das noch am Ende selber herstellen.« Die sogenannten Gewaltbefürworter sind nämlich harmloser als die möglichen alternativen Täter. Dann brauchen wir nicht über das Gewaltpotenzial der anwesenden Herrscher nachzudenken, nicht über die inhärente Gewaltförmigkeit des Kapitalprozesses.

Es ist für einen Analytiker natürlich heikel, spätestens jetzt zu bemerken, dass er sonst nur den Einzelnen im Fokus hat, den je Singulären, jetzt aber mal seine einigermaßen für die Kur geübte Wahrnehmung auf politische Zusammenhänge zu richten hat. Das gehört zwar eigentlich zur Profession und zum Diskurs der Psychoanalyse, muss aber neu geübt werden. Denn das Zuviel an Leid, das die Erlaubnis gibt, als Analytiker deutend, unterbrechend, betonend, störend tätig zu werden, stammt von Konflikten aus dem sozialen Band, für die der Einzelne, bevor er im Leid untergeht, wahrnehmbare Erfindungen produziert, d.h. Symptome, etwas, das bisher in seiner Singularität nicht ausgesprochen werden konnte. Es liegt nahe, diese Konflikte, übersetzt in ein anderes Medium als die Kur selbst, wieder in die Gesellschaft zurückzubringen, sonst wird ja die Analyse selbst auch unwirksam bzw. müsste sich der Analytiker dann als über außerirdische Kräfte verfügendes Genie verstehen. Ein weites Feld…

Das, was sich mir gegenwärtig im medialen Diskurs aufdrängt, sind die vielen Negationen, die sich auf mögliche Gewalt richten. Das Reden gegen destruktive Gewalt hätte möglicherweise ja magische Kraft, wenn es denn nicht nur als Negation daherkäme und als Versuch des Bewahrens der Gewaltverhältnisse. Die Negation klebt am Negierten, bezieht daraus Kraft und Grenzen, die sonst nicht herstellbar sind, zeugt also von Phantasielosigkeit und (auch hier) Ausbeutung. Ähnliches findet sich bei manchen Gegnern der Gegner der Gewalt. Aus diesem faszinierten Kleben wird die Vorstellungswelt gespeist. Das ergibt geliehene oder geraubte Kraft als Abstoßungspunkt.

Auch einige Versionen der Kapitalismuskritik verfahren so, als ob es eine Deutungshoheit geben könnte. Eine solche Hoheit, die in der Lage wäre, die Verhältnisse gerecht zu gestalten. Der Kapitalismus wird verstanden als gemeine Einrichtung, die es bei vorhandenen Ressourcen eigentlich nur verhindert, dass ein gerechtes und freiheitliches Leben möglich wird.

Aus der Psychoanalyse heraus ist aber lediglich die Aussage möglich, dass es intelligentere und raffinierter Möglichkeiten geben könnte, die gegenwärtigen kulturellen Bedingungen für die Gestaltung des sozialen Bandes zu verbessern. Wir hängen ja alle im Kapitalprozess drin, auch wenn wir ihn nicht erfunden haben, sowenig wie die Muttersprache. Wir können aber Fremdsprachen lernen. Nach allem, was wir bisher wissen, ist eine von selbst verträgliche und harmonische Einrichtung des sozialen Bandes kaum möglich. Das hat nichts mit Pessimismus zu tun, sondern mit dem, was man momentan wissen kann.

Nicht der gemeine Kapitalismus enthält uns etwas vor, was uns zusteht, etwas, dass es einfach geben könnte, erst recht nie gegeben hat. Wir müssen dauernd etwas kulturell und sozial Neues erfinden, sonst fliegt uns das soziale Band um die Ohren. Das können wir strukturell, nicht inhaltlich, auch vom Kapitalprozess lernen, heimlich oder offen.

Auch unter demokratischen Bedingungen kommen Personen an die Macht, die kaum etwas von einer demokratischen Haltung mitbekommen haben, sondern ihr Gewählt-Sein als Sieg (fast als Erwählung) interpretieren in dem Sinne, dass die Gegner und deren Ideen damit besiegt wären und sie legitimer Weise jetzt technokratisch alle Mittel zynisch nutzen könnten, um ihre Sicht der Welt durchzusetzen. – Daran sieht man, dass Demokratie ein nicht vollendbarer Prozess ist, der nicht mit der Wahl des immer Gleichen, z.B. Clinton oder Merkel, befördert werden kann.

Wenn jemand entscheidet, eine solche hoch umstrittene Versammlung wie G20 in die Nähe eines eher politisch in Alternativen denkenden Stadtteils zu legen, der ist entweder auf eine gewaltige Provokation aus, um gewaltsam Gelegenheit zu haben, Deutungshoheit durchzusetzen. Oder es geht schlicht um Dummheit. Angst vor der eigenen Neugier kann ja dumm machen. Wenn die Darsteller der Macht ihre Unberührbarkeit so extrem demonstrieren müssen, dass sie ihre eigenen Kleinarmeen mitbringen, dann grenzt das an rohe Gewalt.

(verfasst am 06.07.2017)